Hey, du Rollstuhl, ich weiß ja nicht, ob WIR jemals Freunde werden!

Nein 🙅🏽‍♂️. Werden wir nicht. Da war ich fest der Ansicht. Der erste Eindruck entscheidet, so heißt es landläufig. Mal schauen.

👉 Aus meiner eigenen Erfahrung, und mittlerweile weiß ich, dass ich da absolut nicht alleine war mit den Gedanken und Gefühlen, weiß ich, dass es eine Menge Überwindung kostet, das erste Mal mit dem Rolli vor der eigenen Haustür in die Öffentlichkeit zu rollen.

❓ Was werden nur die Nachbarn denken?
❓ Was ist, wenn mich JETZT jemand sieht?
❓ Wie werde ich mich anstellen?
❓ Kann ich das überhaupt?
❓ Was ist, wenn mir unterwegs die Kraft ausgeht?
❓ Kann ich überhaupt Rollstuhl fahren? Bin ich geübt genug?
❓ Und etliche weitere Fragen haben mich (und viele andere Menschen) vor der ersten Ausfahrt gelöchert.

👉 Schlagen wir doch mal das Lehrbuch auf und schauen, was die Theorie sagt:

✌️ Sei selbstbewußt und stelle dich der Herausforderung. Es kann dir egal sein, was die Leute denken, ob sie schauen, ob sie was tuscheln!

Ahja. Danke liebe Theorie. Das hilft mir ja ungemein. Nicht.

Dein Rolli möchte dein Freund sein und dir helfen!

Die Sorgen und Ängste, das komische Gefühl kann dir keiner nehmen. Diese Gedanken sind in dir drin und die kann niemand wegzaubern.
Das Einzige, was dir aus eigener Erfahrung sagen kann, ist: Schiebe die erste Ausfahrt nicht auf. Es wird nicht einfacher, je länger du wartest.
Eher im Gegenteil! Vermutlich haben die Nachbarn eh schon bereits mitbekommen, dass es mit dem Laufen nicht so rund läuft bei dir. Krankheiten verschlechtern sich manchmal. Das ist völlig normal. Deine Krankheit hat sich verschlechtert und deswegen hast du nun ein neues Hilfsmittel bekommen. Ja: Ein H-I-L-S-MITTEL! Das soll dir, wie der Name verrät, helfen.

Und zwar soll es dir helfen, wieder mehr Lebensqualität zu haben. Es soll dir helfen, an Orte zu kommen, die du zu Fuß nicht erreicht hättest. Es soll dir helfen, wieder besser unterwegs sein zu können. Genau dafür ist der Rollstuhl da. Es ist nicht das Gerät aus der Hölle! Eher im Gegenteil. Aber um das zu begreifen verging bei mir einige Zeit. Ich wünsche dir, dass die Zeit, bis die Erkenntnis bei dir kommt, nicht so lange dauert!

Meine Anfangszeit mit Rolli war emotional und anstrengend

➡️ Wohin meine ersten Rolliausflüge gingen, weiß ich nicht mehr. Zu lange her. Vermutlich einfach mal im Ort rum. So was spektakuläres wie einkaufen oder zum Briefkasten. Ich weiß nur noch sicher aus der Anfangszeit, dass mich auf einmal Leute anquatschten von denen ich, wenn überhaupt, lediglich wußte, dass sie im gleichen Vorort wie ich wohnten 🤔.

"Ooooch, was ist denn passiert?"
"War es ein Unfall?"
"Das tut mir jetzt aber Leid für Sie. Sie sind ja noch so jung!"

Leute, wir kennen uns nicht mal. Gehtˋs noch 🤨?! Aber man bleibt ja höflich. Bis heute sind viele Leute enttäuscht, wenn ich keine große Geschichte aus dem Hut zaubere auf die Frage, was denn passiert sei. Klar Motorradunfall 🏍️, Fallschirmcrash 🪂 oder was-weiß-ich sind natürlich um Längen spannender als langweilige Hüftarthrose 🦴. Je nach Ansprache und Fragestellung schwankte bzw schwankt meine Antwort auch heute noch zwischen ignorieren und ein bisschen ausführlicher. Eigentlich geht es keinen was an, ich will aber auch nicht unfreundlich sein.

👉 Rechne du auch damit, dass du gefragt wirst, was los ist. Und von ... bis ... gibt es alles.:

Manche Menschen sind sehr vorsichtig und höflich bei der Nachfrage. Da ist echtes Interesse dahinter, die Chemie stimmt einfach irgendwie.
Da antworte ich ganz anders als bei Leuten, die einfach mal was raushauen.

Ich habe auch (leider) schon die Flodders 🤪 getroffen: "EY, WAS´N PASSIERT?" Brüllend, aus 6 Meter Entfernung im Terrassenbereich eines Restaurants.
-die warten heute noch auf Antwort, die habe ich einfach links liegen gelassen 🤮.

Dann gibt es Kinder 🧒. Kinder sind neugierig. Oft gucken sie erst sehr interessiert und dann kommt die Frage: "Warum kannst du nicht laufen?"
Die Kleinen stößt man natürlich nicht vor den Kopf und erklärt kurz und kindgerecht 👨‍👦.

Auf der Arbeit (Kundenkontakt) werde ich auch immer mal gefragt. Ich kenn die Leute zu 98% nicht.
Wie gesagt: Kurz und knapp und freundlich.

Die 4 möglichen Schritte der Annäherung

Bild 1 von 4: Der Rollstuhl ist im Stil eines Comics dargestellt, hat Augen und weint. Im Vordergrund, verpixelt, eine menschliche Hand, die dem Rolli den Mittelfinger zeigt.

Freunde... wir...?
Im Leben nicht!

Bild 2 von 4: Die Augen des Rollstuhls im Comicstil sind geöffnet, ein Mann will den Rollstuhl umarmen.

Später dann:
Mmh, eigentlich biste ja ganz ok!

Bild 3 von 4: Der Mann umarmt den Rollstuhl. Er lächelt.

Noch später:
Komm her mein Guter!

Bild 4 von 4: Der Mann formt mit seinen Händen und Fingern ein Herzzeichen und lächelt in die Kamera. Der Rollstuhl steht daneben. De Comicaugen des Rollis sehen glücklich aus.

Schließlich: Danke dir für die Unterstützung im Alltag!


Für Manche bist du als Rollifahrer... Luft.

👉 Rechne ebenfalls damit, dass Menschen nicht dich persönlich ansprechen, sondern deine Begleitperson.
Manchmal denken sich Leute, dass Menschen mit einer körperlichen Behinderung nicht für sich selbst sprechen können. Oder es ist einfach die (unbegründete) Scheu jemanden anzusprechen, "der anders" ist. Man weiß es schlußendlich nicht, warum manche Menschen es tun, aber sie tun es.

Meine Freundin wurde auch schon, ich stand genau daneben, gefragt:
„Was hat ER denn?“ "Was ist IHM denn passiert?"
Meine Reaktionen sind in diesen Situationen teils nicht sehr förderlich für die Kommunikation, aber da platzt mir einfach der Kragen.
Hallo… geht´s noch 🤔? Mal reagiere ich gar nicht, mal rolle ich einfach weg, mal ergreife ich das Wort. Je nach Tageslaune.

Lege dir am besten bald eine Antwort zurecht auf freundliche, empathische Fragen und überlege dir, wie du im anderen Fall reagieren magst wenn die Frage nicht sehr angenehm rüberkommt.

Mir ist die Anfangsphase da unheimlich schwer gefallen. Ich kam mir eh vor wie ein bunter Hund 🐩 mit dem Rollstuhl, musste mich selbst in die Situation hinein finden und dann wirste auch andauernd angequatscht. Ich dachte, dass mich wirklich JEDER anschauen würde! Wenn es dir auch so gehen wird, kann ich dich beruhigen: Dem ist nicht so. In der Anfangsphase kommt es einem nur so vor.

Viel wichtiger als Neugierige ist aber etwas anderes bei deinen ersten Fahrten mit dem neuen Wägelchen.

👉 Selbstbewusstsein 😁! Ist jetzt leichter gesagt als umgesetzt. Leider.
Ich war anfangs echt unsicher im Umgang mit dem Rollstuhl und ich stand vor vielen Problemen:

Bergab musste bremsen: Da glühen dir die Handballen erst mal weg an den Greifreifen 😵.
(Siehe Videobereich!)

Bergauf musste anschieben, als gäbe es keinen Morgen mehr 🥵. Dabei versuchste dann so leise zu atmen, dass nicht jeder denkt, dass du gleich den Löffel abgibst.
Bringt aber nix, weil deine Birne eh rot leuchtet wie eine reife Tomate.

Hindernisse: Bürgersteige sind anfangs (!) die Hölle. (Siehe Videobereich: Hier!)

Dazu kommt noch das ungewohnte Gefühl des Sitzens: In der Öffentlichkeit sitzt man auch mal auf einer Bank 🪑. Hier aber sitzt du nicht auf einer aufgestellten Erholungsmöglichkeit. Du hast deinen Sitz stets unter dir 👨🏽‍🦼.

Und zu guter Letzt der neue Blick in und auf die Welt. Wo man früher Hinterköpfe gesehen hat, siehste jetzt Hintern auf Augenhöhe.
Für Blicke in Gesichter musst du stets den Kopf heben.

✌️ Zum Glück legte sich diese Unsicherheit aber mit der Zeit. Du gewinnst an Kondition, an Selbstvertrauen, an Selbstbewußtsein und an Routine im Umgang mit deinem Rollstuhl. Je mehr du übst, je einfacher wird ALLES!

In der Anfangszeit, und nicht nur in der, war ich fest der Überzeugung: Der Rollstuhl und ich, das wird keine glückliche Beziehung.
Das Ganze klingt gerade sehr negativ und du wolltest vermutlich etwas anderes lesen, als das, was ich aufschrieb. Das tut mir Leid. Jedoch will ich nach wie vor keine heile Welt vorgaukeln, wo keine ist. Deswegen bin ich lieber ehrlich.

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